WTF ist damals eigentlich passiert? – Seite 1

Es war der größte Konkursfall der US-Geschichte: die Pleite der Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008. Und sie war der Höhepunkt einer Finanzkrise, die sich über viele Jahre angebahnt hatte. Diese Krise löste in vielen Industriestaaten eine tiefe Rezession aus und war letztlich auch mitverantwortlich für die Eurokrise. Die Folgen sind bis heute spürbar – nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch. Die versprochenen Reformen des Finanzmarktes, damit so etwas nicht noch mal vorkommt, sind bis heute nur zum Teil umgesetzt. Doch schon geben Politiker in den USA dem Verlangen der Banken und Finanziers nach, Regeln – wie den Dodd-Frank-Act – wieder zu lockern.

Gründe für das Finanzdebakel vor zehn Jahren gab es viele: gierige Banker, laxe Aufseher, gleichgültige Politiker, ahnungslose Bürger. Ein Rückblick auf eine Woche, die die Welt veränderte.

Wall Streets Geldmaschine implodiert

Anders als oft behauptet war es nicht allein der überhitzte US-Immobilienmarkt, der die Krise verursachte. Die Preise für Eigenheime stiegen zwar in den Nullerjahren kräftig an. Doch es waren Banker auf der Suche nach neuen Einnahmequellen, die eine verhängnisvolle Kettenreaktion in Gang setzten. Schon 2001 begannen sie, Hypotheken an US-Bürger zu vergeben, die nach klassischen Bonitätsstandards keine bekommen hätten. Das Risiko war den Bankern egal. Statt wie früher das Darlehen selbst in ihre Bücher zu nehmen, bündelten sie die Hypotheken und verkauften Zertifikate darauf an Investoren – die später berüchtigten Subprime Mortgage Backed Securities. Nicht mehr die Bank, sondern die Investoren hielten nun das Ausfallrisiko.

Weil sich immer mehr Banken beteiligten, flossen Milliarden in den Immobilienmarkt. Die Preise für Häuser und Wohnungen stiegen rasant. Hausbesitzer lösten ihren Kredit einfach durch einen neuen ab, wenn sie den alten nicht mehr zahlen konnten. So sank die Qualität der Kredite und es wurde immer schwieriger, eine neue Hypothek zu bekommen. Immer mehr Hausbesitzer gerieten mit ihren Raten in Verzug oder gaben die Zahlung ganz auf. Millionen Amerikaner verloren schließlich ihr Zuhause. Bei den Investoren, darunter auch viele deutsche Institutionen, stiegen die Verluste. Hinzu kam, dass sich die Banken einen Großteil der Mittel für ihre Hypothekengeldmaschine über kurzfristige Kredite besorgt hatten. Das hatte fatale Folgen für das Finanzsystem. Denn angesichts der steigenden Kreditausfälle zögerten Anleger, den Banken weiter Kapital zu leihen. Damit erreichte die Krise nach dem Immobilienmarkt auch das Finanzsystem.

Bereits im Frühjahr 2008 ging es los …

Die Investmentbank Bear Stearns gerät wegen hoher Verluste mit Hypothekenkrediten in eine gefährliche Schieflage. Die US-Notenbank Fed arrangiert deshalb im März eine Übernahme durch die Großbank JP Morgan. Allerdings übernimmt der Staat 29 Milliarden Dollar der Verlustbringer, die Bear Stearns in den Büchern hat. Anfang September muss das US-Finanzministerium die weltweit größten Hypothekeninstitute Fannie Mae und Freddie Mac mit 200 Milliarden Dollar stützen. Fannie und Freddie waren bis dahin private Institute, die im öffentlichen Auftrag handelten, indem sie Hypotheken von Banken übernahmen und verbrieften.  

… im September folgte die Woche, die die Welt veränderte

 Donnerstag, 11. September

Lehman Brothers meldet Verluste in Höhe von vier Milliarden Dollar in nur einem Quartal. Man sei dabei, sich aktiv nach einem Käufer umzusehen, heißt es in einer knappen Meldung an die US-Börsenaufsicht. Es ist ein steiler Absturz. Die Bank ist eines der ältesten Investmenthäuser an der Wall Street. "Das Hypothekengeschäft war für Lehman über Jahre unfassbar profitabel", sagt Lawrence McDonald, der zwischen 2004 und 2008 bei der Investmentbank arbeitete. Dann sei es zur Last geworden: "Mit jedem Dollar, den wir in unserem Team reingeholt haben, haben sie ein paar Etagen weiter oben sieben oder acht Dollar verloren", beschreibt es McDonald. Der Aktienkurs war innerhalb eines Jahres um 96 Prozent eingebrochen. "Im Sommer fingen die Leute an, davon zu sprechen, dass es Lehman als Nächstes treffen würde, selbst unsere Kunden fragten uns immer häufiger", erzählt Jared Dillon, der damals bei der Bank für das Geschäft mit Exchange Traded Funds (ETFs) zuständig war. "Wir selbst haben das nie geglaubt. Schließlich hat uns unser Management etwas anderes gesagt."

Freitag, 12. September

Die Lage spitzt sich schnell zu: In den Morgennachrichten wird berichtet, das Finanzministerium schließe eine staatliche Unterstützung für die Bank aus. Später kommt heraus, dass sich Finanzminister Henry Paulson und Ben Bernanke, der Chef der US-Notenbank, schon beim ihrem wöchentlichen gemeinsamen Frühstück auf eine Lösung durch den Privatsektor geeinigt haben.

Ausgerechnet der Finanzminister ist jetzt damit beauftragt, einen Käufer für Lehman zu finden. Paulson war vor seinem Wechsel nach Washington Chef von Goldman Sachs – einem der größten Konkurrenten von Lehman. Doch das Finanzministerium hat Schwierigkeiten, einen Interessenten aufzutreiben. Paulson bestellt die Spitzenbanker der Branche in das Gebäude der New Yorker Fed (Federal Reserve) ein. Die Fed ist mit der Aufsicht der Wall Street betraut. Neben dem 63-jährigen Paulson ist deshalb auch Timothy Geithner anwesend, der 48-jährige Chef der New Yorker Fed.

Einige Banker haben ihre Finanzchefs vorsichtshalber gleich mitgebracht. Paulson verliest ein Statement, in dem den Bankern mitgeteilt wird, dass die Regierung Lehman nicht retten wird. Sollte Lehman überleben, dann nur mithilfe der anwesenden Bankenchefs. Viel Zeit für eine Lösung bleibt nicht. Sollte bis zum Börsenstart am Montagmorgen nicht klar sein, was aus Lehman wird, ist Chaos an den Finanzmärkten zu befürchten. Zwei Institute werden als aussichtsreichste Kandidaten für eine Übernahme genannt: die Großbank Bank of America und die britische Investmentbank Barclays. Beide sind nicht anwesend. Das Treffen endet gegen 21.30 Uhr. "Die Aktie wurde an diesem Tag für drei Dollar gehandelt", erzählt Ex-Banker Dillon. "Jeder wusste, dass es jetzt wahrscheinlich war, dass wir nicht überleben würden. Trotzdem hofften viele noch immer, dass die Fed und die Behörden über das Wochenende einen Rettungsplan erstellen würden."

Nur eine kleine Delle?

Der damalige Fed-Chef Ben Bernanke © Chip Somodevilla/​Getty Images

 Samstag, 13. September

Die Banker kommen um acht Uhr morgens wieder zusammen. Doch noch bevor sie sich Lehman zuwenden können, meldet sich John Thain, der Chef von Merrill Lynch. In der Branche hat sich der 54-jährige einen Namen als Sanierer gemacht. Er hat einen Kaufinteressenten aufgetrieben – allerdings für Merrill. Für 50 Milliarden Dollar will die Bank of America (BofA) die Investmentbank übernehmen. 

Damit bleibt als Käufer für Lehman nur noch Barclays. Wie die Bank of America sehen auch die Briten die Krise als Chance, sich unter den Banken an der Wall Street als feste Größe zu etablieren. Schließlich glauben sie – wie viele –, dass es sich bei der Krise nur um eine kurzfristige Delle handelt. Doch das Ergebnis der Arbeitsgruppe, die sich am Vorabend mit den Immobilien und Beteiligungen von Lehman beschäftigt hatte, schockiert die Briten. Die Bank hat die Bewertung in der eigenen Bilanz um mindestens 30 Milliarden Dollar zu hoch angesetzt. Der Versuch von Finanzminister Paulson, eine Garantie der britischen Regierung für den ohnehin wackeligen Deal zu bekommen, wird vom britischen Finanzminister Alistair Darling abgeschmettert. Auch die Wall-Street-Bosse wollen keine Mittel bereitstellen, um das Geschäft abzufedern. Die Briten wollen aber nur kaufen, wenn sie nicht für die Lehman-Verluste geradestehen müssen. Damit ist der Deal so gut wie gescheitert. 

Gleichzeitig zieht eine weitere Krise am Horizont auf: AIG. Der Versicherungskonzern hat eine riesige Kapitallücke. Das Unternehmen ist zu diesem Zeitpunkt der größte Assekuranzkonzern der Welt, präsent in 130 Ländern mit 74 Millionen Kunden. AIGs Probleme kommen ebenfalls aus der Finanzkrise. Eine Londoner Tochter hat AIGs Topkreditbewertung genutzt, um Kredit- und Hypthekenbündel von Banken über sogenannte Credit Default Swaps (CDS) zu garantieren. Durch die Zusage des Versicherers, bei Ausfällen einzuspringen, stieg die Kreditbewertung der Bündel, die sich damit teurer an Investoren verkaufen ließen. Dafür kassiert AIG Hunderte Millionen an Gebühren, etwa von Goldman Sachs und der Deutschen Bank.

Anders als bei einer normalen Versicherung werden für die CDS-Derivate jedoch keine Reserven für Schadensfälle gebildet. Der Konzern hat es zudem versäumt, sich selbst abzusichern. Das lukrative Geschäft wird so zur Falle. Als im Sommer immer mehr Hauskäufer die Zahlungen für ihre Hypotheken nicht mehr leisten können, steigt die Ausfallrate rasant. Plötzlich sieht sich AIG mit Forderungen in Milliardenhöhe konfrontiert.

AIG hat die ganze Woche vergeblich versucht, Mittel über private Investoren aufzutreiben. Jetzt muss es schnell gehen. Bis Mittwoch muss AIG sechs Milliarden Dollar an die Banken überweisen, innerhalb von zwei Wochen werden es 39 Milliarden sein.

Sonntag, 14. September

Die Gespräche in der New Yorker Fed gehen weiter. Auch Ben Bernanke, der Chef der US-Notenbank, ist aus Washington gekommen. Vor der Trutzburg im Finanzdistrikt haben sich Dutzende Journalisten eingefunden. Stundenlang wird verhandelt. Gegen zwölf betreten Finanzminister Paulson, Fed-Chef Geithner und der Chef der Börsenaufsichtsbehörde SEC, Christopher Cox, den Raum, ihnen folgt ein ganzer Trupp von Mitarbeitern. Paulson macht es kurz: "Der Deal mit Barclays ist vom Tisch. Bereitet euch auf eine Insolvenz vor."

Den anwesenden Bankenchefs geht es nun vor allem darum, ihre eigenen Institute zu schützen. Niemand will Verluste aus Transaktionen mit Lehman erleiden. Im Mittelpunkt stehen Derivate. Das Geschäft mit den nahezu unregulierten und für die Banken höchst lukrativen Wetten auf Aktien, Anleihen, Kredite, Devisen und Rohstoffe ist in nur wenigen Jahren auf ein Volumen von knapp 600 Billionen Dollar angeschwollen – das 41-fache des damaligen Bruttoinlandsprodukts der USA. Niemand kann zu diesem Zeitpunkt abschätzen, wie die komplexen Finanzinstrumente reagieren, wenn einer der aktivsten Mitspieler an der Wall Street über Nacht ausfällt.  

Am Nachmittag wird Lehmans Konkursanwalt Harvey Miller und ein Führungsteam der Bank zur Krisensitzung ins Fed-Gebäude bestellt. Was der nächste Schritt sei, will Miller wissen. "Sie müssen bis Mitternacht Konkurs anmelden", lautet die knappe Antwort der Fed.

Die Nachricht spricht sich schnell herum: Die Mitarbeiter im Hauptsitz in Midtown fürchten, das Gebäude werde am nächsten Tag verschlossen und alles, was sich darin befindet, beschlagnahmt. Viele Angestellte sind mit Koffern gekommen, um ihre Besitztümer in Sicherheit zu bringen. "Ich war extra gekommen, um meinen Freunden beizustehen", erinnert sich Lawrence McDonald, der die Bank wenige Monate zuvor verlassen hatte. "Wir tranken Kaffee und schwiegen viel, einige hatten die Kartons mit ihren Sachen schon unter dem Arm."

Montag, 15. September

Um 1.45 Uhr früh geht die Mitteilung der Lehman-Anwälte an das Konkursgericht in Lower Manhattan raus. Pünktlich zum Börsenstart teilt Lehman auch der Öffentlichkeit die Insolvenz der Holdinggesellschaft mit.

Die Fed stellt gleichzeitig Geld zur Verfügung, um zumindest das Brokergeschäft für 24 Stunden am Leben zu halten – lange genug, so die Hoffnung, um einen Deal mit Barclays abzuschließen. Die Briten wollen zumindest diese Lehman-Sparte übernehmen. Ein ganzer Schwarm von Anwälten und Bankern findet sich in den kommenden Stunden im 31. Stock von Lehman ein.

"Wir sind zur Arbeit gekommen und alles war voller Übertragungswagen und Reporter, die versuchten, mit Leuten zu sprechen", erzählt Ex-Banker Dillon. "Als ich ins Gebäude kam, waren alle in Schockstarre. Sie wussten einfach nicht, was sie tun sollten. Uns war nur gesagt worden, dass wir nicht mehr handeln sollten. Wir saßen also einfach da und sahen fern." 

Für den Rest der Welt hat die Krise mit der Insolvenz von Lehman erst richtig begonnen. Die Märkte in Europa brechen ein. Der FTSE 100 in London schließt vier Prozent und mehr als 201 Punkte im Minus. Der Dow Jones fällt um über 500 Punkte, ähnlich große Verluste gibt es in Frankfurt.

Um elf Uhr treffen sich die Banker den vierten Tag in Folge im Gebäude der New Yorker Fed. Heute soll AIG im Mittelpunkt stehen. Die Aktie fällt und fällt. Über 60 Prozent wird der Kursverlust bis zum Handelsschluss betragen. Der New Yorker Fed-Chef Geithner lässt die Banker wissen: Es wird keine Regierungshilfen für AIG geben. Die Finanzbosse sollen nach einer Branchenlösung suchen. Um 17 Uhr Ortszeit werden die Versuche für gescheitert erklärt.

Finanzminister Paulson hat seinerseits ein Team von Regierungsmitarbeitern mit dem Fall betraut. Um Mitternacht ruft er sie zusammen. Wenn der Konzern die Milliardenforderungen der Banken nicht zahlt, dann müssten weltweit Banken und Investoren den Wert dieser Kreditbündel abschreiben. AIG ist too big to fail – oder zumindest zu verzweigt. Um zwei Uhr nachts schickt Geithner die Gruppe nach Hause, eine Lösung gibt es nicht. 

"Manchmal muss man harte Entscheidungen treffen"

Der damalige US-Finanzminister Hank Paulson auf dem Weg vom Weißen Haus ins Finanzministerium © Win Mcnamee/​Reuters

 Dienstag, 16. September 

Nach einem weiteren Krisentreffen vollziehen der New Yorker Fed-Chef Geithner und Finanzminister Paulson die Kehrtwende: Am Ende kann nur eine staatliche Beteiligung AIG noch retten. Am Nachmittag treffen sie sich mit US-Präsident George W. Bush im Roosevelt-Raum des Weißen Hauses, um von ihm die Genehmigung zu bekommen. "Was passiert gerade mit unserem Finanzsystem, und was tun wir?", will der Präsident von seinem Finanzminister und dem Fed-Chef wissen, berichtet der New Yorker. Es sind die letzten Monate von Bushs Amtszeit, der Präsident habe schlicht keine Kraft mehr gehabt, sich um noch eine Krise zu kümmern, sagen Beobachter später

Geithner und Paulson legen ihren Plan dar. "Manchmal muss man harte Entscheidungen treffen", sagt Bush, als sie fertig sind. "Wenn Sie glauben, dass dies getan werden muss, dann haben Sie meine Unterstützung." Um 19 Uhr am selben Tag erklärt sich die Fed offiziell bereit, für 85 Milliarden Dollar knapp 80 Prozent an AIG zu übernehmen.

Unbemerkt von den Akteuren in der Fed und in Washington entsteht bereits eine weitere Welle der Krise. Dieses Mal in einer Ecke des Kapitalmarktes, den die Wall Street und die Aufseher bis dahin für uninteressant gehalten und daher ignoriert hatten. Es handelt sich um Geldmarktfonds. Ursprünglich sollten die Fonds nur in kurzlaufende US-Staatspapiere investieren. Um die Rendite zu verbessern, begannen die Institute aber, auch kurzfristige Anleihen von Unternehmen und Banken zu kaufen.

Größter Anbieter von Geldmarktfonds mit einem Volumen von 64 Milliarden Dollar ist Reserve Management. Im Portfolio des wichtigsten Fonds des Unternehmens befanden sich am 15. September auch Kreditpapiere von Lehman. In der Branche verbreitet sich die Information, dass Reserve herbe Verluste durch die nun wertlosen Lehman-Papiere erleiden werde. Bereits am Montagmorgen hatten Großanleger wie der Medienkonzern Time Warner, der 820 Millionen Dollar bei Reserve angelegt hatte, ihre Einlagen zurückgefordert. Um 13 Uhr haben die Auszahlungsforderungen über 16 Milliarden erreicht. Zu normalen Zeiten wäre das brutal, aber verkraftbar gewesen. Staatspapiere lassen sich eigentlich immer verkaufen, wenn man dringend Geld braucht. Nach Lehman ist der Markt jedoch wie zugefroren. 

Am Dienstagmorgen kommen mehr und mehr Forderungen auf Auszahlung der Einlagen. Kein Reserve-Kunde will auf dem sinkenden Schiff bleiben. Am Nachmittag bittet das Unternehmen die Fed um Hilfe. Vergebens. Die Auszahlungsforderungen haben inzwischen 40 Milliarden Dollar erreicht – rund zwei Drittel der gesamten Einlagen. 

 Mittwoch, 17. September 

Über Nacht haben Spekulanten begonnen, Wetten gegen Morgan Stanley abzuschließen. John Mack, Chef von Morgan Stanley, ist außer sich und verlangt von der Börsenaufsicht, gegen die Spekulationen einzuschreiten.  

Viele fürchten, das Vertrauen in die beiden verbliebenen Investmentbanken Goldman Sachs und Morgan Stanley könne, ähnlich wie bei Lehman, innerhalb weniger Tage schwinden. Auf CNBC laufen an diesem Morgen ununterbrochen die Aktienkurse von Morgan Stanley und Goldman über den Bildschirm. Die Zinsen auf Staatsanleihen fallen erstmals unter null: Anleger nehmen einen Verlust in Kauf, um ihr Geld dem US-Staat anzuvertrauen. Nur dort glauben sie es jetzt noch sicher.

Schon um acht Uhr morgens gibt es an diesem Mittwoch ein Treffen im Büro von Finanzminister Paulson. Notenbankchef Bernanke und weitere seiner Mitarbeiter sind zugeschaltet. Den Anwesenden ist spätestens jetzt klar, dass sich die Krise wie ein Lauffeuer durch die Bankenbranche zieht. "Dies ist das finanzielle Äquivalent eines Krieges, und wir brauchen Kriegsbefugnisse", sagt Paulson

Trotz der kritischen Lage ist der Finanzminister jedoch zögerlich, die Abgeordneten im Kongress einzuschalten. Wenn das Ministerium und die Fed erklärten, dass es sich um einen Notfall handle und sie zusätzliche Mittel bräuchten, diese aber nicht bereitgestellt würden, dann könnte dies die Märkte weiter destabilisieren.

Für den Reserve Fonds ist es vorbei. Überwältigt von Auszahlungsforderungen und unfähig, die notwendigen Mittel dafür aufzutreiben, stellt das Unternehmen die Geschäftstätigkeit ein. Doch die Panik hat inzwischen auch die Konkurrenz erfasst. Investoren wollen ihr Geld zurück. Die ganze Geldmarktbranche sieht sich über Nacht Milliardenforderungen gegenüber. Die Angst verstärkt sich, als sich herausstellt, dass viele der Fonds auch auf AIG-Papieren sitzen. Der Versicherer ist zwar vom Staat gerettet worden, doch die Gläubiger würden warten müssen, bis die Regierung das geliehene Kapital wieder zurück bekommen würde. 

Paulson erhält an diesem Morgen einen Anruf von Jeffrey Immelt, dem damaligen Chef von General Electric (GE), dem größten US-Mischkonzern. Immelt ist besorgt. Der Konzern hängt für die Finanzierung seines Tagesgeschäfts – Lohn- und Gehaltszahlungen, Lieferanten, die Portokasse – von kurzfristigen Krediten ab. Bis zum Drama um Lehman verkaufte GE dafür kurzfristige Schuldverschreibungen an die Geldmarktfonds, die die Papiere des Giganten gerne nahmen. Doch jetzt kann GE die Papiere  – wenn überhaupt – nur zu hohen Risikoprämien unterbringen. Immelt befürchtet, nicht genug liquide Mittel zu erhalten.

Als Paulson, Geithner und Bernanke am Sonntag den Daumen für Lehman senkten, waren sie auf das Schicksal der Banken fokussiert. Die Kettenreaktion, die nun die größten Konzerne weltweit bedroht, hatten sie nicht kommen sehen.

Einen Lichtblick gibt es aber an diesem Tag: In einer Presseerklärung kündigt Barclays offiziell an, Lehmans Investmentbanking und Handelsoperationen aus dem Konkurs zu übernehmen. 10.000 Angestellte können bleiben. Den Vermögenswerten von 72 Milliarden Dollar stehen Verbindlichkeiten von 68 Milliarden Dollar gegenüber.

"Wir befanden uns tagelang in einem Schwebezustand", erzählt Ex-Banker Dillon. "Wir wussten, dass nicht viel Zeit bleibt. Aber die Leute sind die ganze Woche über zur Arbeit gekommen, nur für den Fall, dass es doch noch einen Retter geben sollte. Als dann die Nachricht kam, dass Barclays das Brokergeschäft tatsächlich übernehmen würde, war die Erleichterung groß."

"Wir stehen vor einem systemischen Zusammenbruch"

Präsident George Bush am 18. September 2008 © Win Mcnamee/​Getty Images

Donnerstag, 18. September 

Um 10.15 Uhr äußert sich George Bush im Rosengarten des Weißen Hauses erstmals öffentlich zur Krise: "Die Amerikaner können sicher sein, dass wir alles tun, um die Märkte zu stärken und zu stabilisieren und das Vertrauen der Investoren zu verbessern." 

Das Team der Fed erwägt unterdessen Optionen für die unter Druck geratenen Investmentbanken Goldman Sachs und Morgan Stanley. Während Notenbankchef Bernanke der Ansicht ist, Regierungen müssten im Zweifel auch Unternehmen übernehmen können, fürchtet Finanzminister Paulson, eine Quasi-Verstaatlichung könne die Märkte destabilisieren und private Investoren verschrecken. 

Schließlich kommt der rettende Einfall: Die Regierung solle selbst am Markt aktiv werden. Paulson erklärt Präsident Bush, das Finanzministerium und die Fed strebten ein Gesetz an, das es der Regierung erlauben würde, Milliarden von Dollar an Mortgage Backed Securities (MBS) aufzukaufen. Bush stimmt zu. Als sich an der Börse herumspricht, dass die Regierung eine umfassende Antwort auf die Krise vorbereitet, reagieren die Märkte sofort. Der Dow Jones schließt 410 Punkte im Plus, es ist der größte Gewinn in sechs Jahren.  

Um 19 Uhr treffen sich Bernanke, Paulson und SEC-Chef Christopher Cox mit den Parteispitzen der Republikaner und Demokraten im Büro von Nancy Pelosi, der Sprecherin der Demokraten im Repräsentantenhaus. Der Finanzminister kommt schnell zum Punkt. "Wir stehen vor einem systemischen Zusammenbruch und wir müssen handeln, um das zu verhindern", erklärt Paulson. "Wir brauchen die Erlaubnis, mehrere Hundert Milliarden Dollar auszugeben." Die Abgeordneten der Demokraten reagieren erst sehr skeptisch. Später geben jedoch beide Parteien eine gemeinsame Pressekonferenz, in der sie ihre Bereitschaft zur Kooperation erklären. Vorher musste Paulson aber noch vor der Demokratin Nancy Pelosi auf die Knie gehen und sie um Unterstützung bitten.

 Freitag, 19. September

Kurz vor Handelsbeginn um 9 Uhr veröffentlicht Finanzminister Paulson eine Stellungnahme mit einem ersten Grundgerüst für das Rettungspaket. Die Idee: Der Rettungsfonds übernimmt die Vermögenswerte, die nicht mehr verkauft werden können und "die unsere Finanzinstitute belasten und unsere Wirtschaft bedrohen". Die Nachricht führt, gemeinsam mit der Garantie für die Geldmarktfonds, zu einer Erholung an den Börsen. Der Dow Jones legt 400 Punkte zu.

Um 10.45 Uhr wendet sich Präsident Bush zum zweiten Mal an die Nation. Neben ihm stehen Paulson, Bernanke und Cox. "Dies ist ein kritischer Moment für Amerikas Wirtschaft. Unser System der freien Wirtschaft basiert auf der Überzeugung, dass die Regierung nur dann eingreifen soll, wenn es nötig ist. Angesichts des prekären Zustands der Finanzmärkte – und ihrer zentralen Bedeutung für das tägliche Leben der Amerikaner – ist ein Eingreifen der Regierung nicht nur geboten; es ist unverzichtbar."

Der endgültige Entwurf des Rettungsprogramms ist nur wenige Seiten lang. Darin heißt es: "Die Befugnis des Finanzministers, Hypothekenpapiere zu kaufen, soll auf 700.000.000.000 Dollar begrenzt sein." Zum ersten Mal hat der Plan damit eine konkrete Zahl. Die Berechnungen dahinter sind denkbar simpel: Der weltweite Markt für Hypothekenpapiere hat zu diesem Zeitpunkt einen Wert von 1,4 Billionen Dollar. Die Hälfte, glaubt Paulson, solle reichen, um das System zu stabilisieren. Damit kann er den Abgeordneten den Entwurf vorlegen. Am 3. Oktober wird das Gesetz von US-Präsident Bush unterschrieben.

"Lehman Brothers wurde geopfert, weil es dieses Paket sonst niemals durch den Kongress geschafft hätte", sagt Ex-Banker Lawrence McDonald. 

Und dann war alles wieder gut?

All die frenetischen Rettungsaktionen und Milliardenpakete, die von den Verantwortlichen in Washington und New York in jenen Tagen geschnürt wurden, konnten die Große Rezession, die schwerste Wirtschaftskrise seit den 1930er-Jahren, nicht verhindern. Gleichzeitig legten die Akteure mit ihrer Koste-es-was-es-wolle-Rettung der Banken und Finanzinstituten eine später aufgehende Saat für politische Ressentiments und soziale Verwerfungen. 

Hausbesitzer, Konsumenten, Kleinanleger, Pensionäre – sie alle waren in die Diskussionen nicht einbezogen. Als die Politiker, die die Interessen der Allgemeinheit hätten vertreten sollen, mit der Lage konfrontiert wurden, willigten sie schnell in die Vorschläge der Experten ein. Zu komplex schienen die Probleme für Laien. Allein die US-Bürger kostete die Krise 20 Billionen Dollar, hat der Rechnungshof des US-Kongress errechnet. Durch die Krise wurden in den USA neun Millionen Jobs vernichtet. Rund zehn Millionen Amerikaner verloren ihr Eigenheim durch Zwangsversteigerung.

Und das hat Auswirkungen bis heute: Die Armen sind heute ärmer und die Reichen reicher. 2007 fielen 33,7 Prozent des gesamten privaten Vermögens auf ein Prozent der Bevölkerung – 2016 waren es knapp 39 Prozent. Die US-Erwerbsquote sank von 66 Prozent im Jahr 2008 auf unter 63 Prozent. Erst 2016 hat sie begonnen, sich zu erholen. Millennials haben 300 Prozent mehr Studentenkredite als die Generation ihrer Eltern. 79 Millionen Amerikaner leben heute mit einem Menschen zusammen, mit dem sie nicht familiär verbunden sind – auch weil die Wohnkosten allein nicht zu bezahlen sind.

Immerhin: Mit dem Dodd-Frank-Act von 2010 sollen die Banken besser kontrolliert werden. Die Fed hat mehr Befugnisse bekommen. Sie führt Stresstests durch und zwingt die Institute, mehr Kapital vorzuhalten. Die sogenannte Volcker Rule schränkt Spekulationen ein. Aber nach wie vor sind 30 Prozent der Regeln noch gar nicht umgesetzt. Und Präsident Donald Trump hat versprochen, die Banken von der "Überegulierung" zu befreien, um die Wirtschaft anzukurbeln. Erste Schritte sind bereits erfolgt.

Den Banken geht es unterdessen wieder blendend: In den ersten drei Monaten des Jahres 2018 haben sie mit 56 Milliarden Dollar den höchsten Gewinn in ihrer Geschichte verbucht. Die Boni sind höher als vor zehn Jahren, die Konzentration in der Branche ist größer. "Die Stabilisierung ist gelungen, die Wirtschaft hat sich von der Krise erholt und wächst wieder", lautet das Fazit des Wirtschaftshistorikers Adam Tooze zehn Jahre nach der Lehman-Pleite. "Aber dadurch wurde die Systemfrage, die durch die Krise gestellt wurde, verdrängt. Was für ein Finanzsystem wollen wir eigentlich, welche Funktionen soll es erfüllen?" Tooze ist überzeugt: Im Krisenfall müssten die Banken wieder vom Staat gerettet werden.